„Ich möchte selbst nach meinem Tod weiterleben!“

Wie lange kann ein Mensch den Atem anhalten, ohne zu ersticken?

Dienstag, 25. Juni 2019, 9.50 Uhr, Aula der Herschelschule Hannover, wenige Minuten vor Einlass des Publikums: 

Die Spielerinnen und Spieler des Profilkurses DS Jg.9 machen sich bereit, folgen der Anweisung ihres Lehrers B. Bruns, unter dessen Leitung das Stück „Das Tagebuch der Anne Frank“  zur Aufführung kommen soll: „Zieht euch jetzt eure Jacken an!“ Die Mitglieder des Ensembles gehen über in die konkrete Einfühlung in ihre Rollen, vergessen die hochsommerlichen Temperaturen, schlüpfen in dicke dunkle Jacken, alle mit einem gelben Davidstern versehen, links, wo das Herz sitzt; greifen nach Taschen und Koffern, beziehen Position. Bei noch verdunkelter Bühne wird das Publikum abrupt eingestimmt auf das Thema, die Aktualität des Stückes: Scheinbar nüchtern wird von einer klaren Stimme eine Vielzahl von Übergriffen von Seiten rechtsnationaler Gruppen aus der jüngeren und jüngsten deutschen Gegenwart aufgelistet. Dann schlägt eine Kirchenglocke mehrere Male – das ist das Signal: Die Figuren betreten stolpernd, verunsichert, tastend die Bühne, von jetzt an ist dies ihr neuer, beengter Lebensraum, in dem sie sich nach und nach einrichten. Während sie ihre Mäntel ablegen, sich umschauen, erschöpft Platz nehmen, wird zeitgleich der erste Tagebucheintrag aus Annes Tagebuch eingespielt – auch unvorbereitete Zuschauer sind spätestens jetzt über die wesentlichen historischen Fakten informiert: das Schicksal der Familie Frank, deren Emigration nach Holland im Jahr 1933, den Überfall Hitlers auf die Niederlande im Mai 1940, einen Monat vor Annes 11. Geburtstag; Ausgrenzung, Diskriminierung, Ghettoisierung, alles dokumentiert in Annes Tagebuch: „Wir durften nicht mal auf der sonnigen Seite der Straße gehen.“; schließlich die übereilte Flucht in das geheime Hinterhaus. Von nun an wird der Zuschauer konfrontiert mit einem Leben auf engstem Raum – das Bühnenbild zeigt vor dunklem Hintergrund mehrere kleine Tischgruppen, mittig auffallend ein weißes Sofa – im Verlauf der Handlung werden dies winzige Zentren mit der Möglichkeit zum Rückzug in eine mit Mühe aufrechterhaltene Privatheit, zu gemeinsamer Kommunikation, zu sozialem Miteinander und Gegeneinander, zu sich langsam herausbildender Freundschaft und erster Liebe zwischen Anne und Peter (Osman/Martin). Der Wechsel zwischen Dunkelheit, Zwielicht und Helligkeit, Starre und Bewegung, begütigender Harmonisierung (konsequent gespielt von Michael als Otto Frank), lebendigem Aufbegehren und Festhalten an Träumen (durchgängig überzeugend und mitreißend: Emma als Anne Frank) – all dies bietet das gelungene Zusammenspiel von durchgängig punktgenau arbeitender Technik und textsicherem Ensemble. Der zermürbende Alltag auf Zehenspitzen, das Leben zwischen Angst und Hoffnung, von allen Figuren individuell gespiegelt, führt zu Hilflosigkeit (Andreea/Ilayda als Margot Frank), lautem Streit (Ufuk und Hevi/Melando und Michelle als Ehepaar van Daan) und Verstummen (Kumru/Vanessa als Edith Frank). Die immer wieder eingeforderte überlebensnotwendige Stille im Hinterhaus wird nur unterbrochen durch die beiden einzigen Verbindungen zur Außenwelt: Da sind die beiden treuen Helfer Miep (Eda/Dilan) und Kraler (Ali), angekündigt durch eine schrille Klingel und dann das Radio – mehr als nur ein Requisit bietet es publikumswirksam authentische Wiedergabe historischer Botschaften der BBC, Eisenhowers D-Day-Speech. In die Ruhe der vorletzten Szene – Margot, Peter und Anne essen frische Erdbeeren, die Erwachsenen spielen Karten- dringen in hierzu  scharfem Kontrast, der das Publikum quasi explodieren lässt, brutal und laut Nazioffiziere ein (Melando, Martin/Osman, Ali) – treiben die Menschen aus dem Versteck, es wird dunkel, man hört nur noch das zunehmend lauter werdende Geräusch einer Lokomotive.

Noch einmal kommt Licht auf die Bühne: Otto Frank, der einzige Überlebende, betritt zögernd das ehemalige Versteck, hebt herumliegende Schuhe auf, und dann Annes Tagebuch: „Ich möchte selbst nach meinem Tod weiterleben!“

Die heutige Aufführung hat dazu beigetragen.

G.-A. Kobs